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Schönheit in einer neuen Dimension
Kultur

Schönheit in einer neuen Dimension

Der amerikanische Regisseur Jay Scheib setzt bei seiner „Parsifal“- Neuinszenierung in Bayreuth erstmals auf Augmented Reality

Jay Scheib, Sie sind jetzt seit Mitte Mai in Bayreuth. Wie fühlt sich die Arbeit bei den Bayreuther Festspielen bisher an? 

Die Arbeitsatmosphäre im Haus ist super. Sehr konzentriert, alle sind freundlich und sehr professionell unterwegs. Bis jetzt ist alles prima! Und auch in der Stadt fühle ich mich sehr wohl. Läuft!

Zwischen den ersten Gesprächen über ein Engagement und der heißen Probenphase liegen ja durchaus ein paar Jahre. Wie hat sich denn die Arbeit, vielleicht auch Ihr Verständnis der Oper „Parsifal“, in dieser Zeit entwickelt?

Der größte Unterschied ist wohl, dass man in der Anfangszeit ziemlich alleine vor sich hinarbeitet, während jetzt in kurzen Abständen immer wieder Neues dazukommt. Vor allem jetzt, da wir endlich mit den Sängern proben können. Die haben ihre eigenen Ideen, Erfahrungen und Vorstellungen, die ich gerne berücksichtige. Ja, in den letzten paar Wochen hat sich noch mal viel getan.

Sind Sie froh, wenn Sänger sich einbringen und eigene Vorschläge machen? Oder wollen Sie vor allem Ihr Ding durchziehen?

Ich ermuntere die Sängerinnen und Sänger sogar dazu, sich zu artikulieren. Mir ist es am liebsten, wenn ich mit einer starken Idee in die Probenphase komme – und die Mitwirkenden dann ihre Sicht der Dinge einbringen. Manchmal passt das perfekt, manchmal entsteht Reibung. Aber auch Reibung ist interessant und produktiv. Und kann uns weiterbringen. 

Sie haben es nicht nur mit „alten Hasen“ zu tun, sondern es gibt durchaus auch Bayreuth- und Rollendebüts in dieser Neuproduktion …

Ja, Joseph Calleja etwa singt in Bayreuth erstmals den Parsifal. Elīna Garanča singt zum ersten Mal in Bayreuth. Auch Jordan Shanahan (Klingsor) debütiert in diesem Jahr auf dem Grünen Hügel.

Ein besonders intensives Miteinander sollte es ja zwangsläufig geben zwischen Regisseur und Dirigent. Wie sehr decken sich Ihre Vorstellungen von Wagners Weltabschiedswerk mit denen von Pablo Heras-Casado, der ja erstmals im Bayreuther Graben dirigiert und über den „Parsifal“ das Folgende gesagt hat: „Der schwebende Klang des Orchesters scheint in den vier Stunden, die das Stück dauert, nicht ein einziges Mal den Boden zu berühren. Es ist einfach die pure Schönheit!“

Wir stehen seit gut zwei Jahren in engem Kontakt. Ich habe ein Konzert von ihm in Köln erlebt. Und dann bin ich extra von Boston nach Badajoz geflogen, um mir eine konzertante Aufführung des „Parsifal“ mit ihm als Dirigent anzuhören. Da habe ich gespürt, wie er den „Parsifal“ sieht, fühlt und lebt. Und natürlich haben wir uns auch danach immer wieder unterhalten und abgestimmt.

Die Spannung bezüglich dieser Inszenierung ist ja auch deshalb so enorm groß, weil Sie – erstmals an einem der wichtigsten Opernhäuser der Welt – die sogenannte Augmented Reality (AR) einbauen. Sind die Einspieler und  Bilder, die hier zum Einsatz kommen, alle schon produziert und abgespeichert?

Ich würde sagen, dass etwa 70 Prozent des AR-Materials schon im Kasten sind, ja. Ebenso wie auch die Bühnenbilder von Mimi Lien und die Kostüme von Meentje Nielsen längst fertig sind. Jetzt geht es um unendlich viele Details. Auf der Bühne, neben der Bühne, bei der Beleuchtung, es geht um Tempi bei Verwandlungen, um die richtigen Bewegungen, um die Feinjustierung.

Sie sind in Ihrer Arbeit als Regisseur unglaublich breit aufgestellt. Was man schon daran erkennt, dass Sie neben Wagner auch Jim Steinmans Musical „Bat Out of Hell“ sehr erfolgreich in Szene gesetzt haben. Erst Las Vegas, dann Bayreuth – das gab es so auch noch nicht.  Hand aufs Herz: Wenn es auf die Premiere zugeht, in der Endphase der Proben also, gibt es dann wirklich noch große Unterschiede zwischen Parsifal und Meat Loaf, zwischen Klassik und Rock ’n’ Roll? Oder geht es da nur noch ums Handwerk?

Natürlich bestimmt die Vorlage das Stück und das Tun. Und „Parsifal“ verlangt doch eine sehr andere Grundeinstellung als ein Rock-’n’-Roll-Musical. Bei „Parsifal“ geht es einfach viel tiefer, da müssen die Gedanken länger tragen, da bestimmt die Mystik der Musik und die Tiefe der Themen das Bühnengeschehen. Rock ’n’ Roll  hingegen hat ein radikal anderes Tempo. Obwohl auch die Blumenmädchenszene im „Parsifal“ etwas von Rock ’n’ Roll hat (lacht).

Kommen wir zur Augmented Reality – warum braucht’s das überhaupt? Wollen Sie den Opernbesuchern etwa eine zusätzliche Dimension bieten?

Schön gesagt! Unser Ziel ist, den Menschen noch tiefere Erfahrungen zu ermöglichen beim Erleben dieses außergewöhnlichen Werks.

Und wie reagieren Sängerinnen und Sänger, der Dirigent, das Team auf diese Technikinnovation?

Alle sind aufgeschlossen und neugierig. Das gilt nicht nur für meine Produktion, sondern für das ganze Haus. Da spürt man die Begeisterung für Neues. Es gibt hier einfach eine Tradition für Innovation. Was man schon daran erkennt, dass Wagner zu Lebzeiten selbst zur Innovation aufgerufen hat, als er sagte: „Kinder, schafft Neues.“

Wo ist denn das gesamte AR-Material entstanden – in irgendeinem verrückten Studio in den USA? In einer Spielhölle für Gamer?

Ein bisschen von allem (lacht). Aber im Ernst: „Ich habe mit meinen Studenten zwei bis drei Semester lang am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston am „Parsifal“ gearbeitet. Die Palette dessen, was da entstanden ist, reicht von superverrückten Dingen bis hin zu sehr konservativen Ansätzen. Und einige dieser Ansätze haben wir dann auch für die weitere Arbeit übernommen. 

Sie sind in diesem Bereich ein wahrer Pionier. Bedeutet: Sie müssen sich die Grundlagen für den Einsatz dieser Technologie auf der Bühne selbst erarbeiten und Umsetzungsideen selbst entwickeln. Abgucken geht da nicht, weil es noch kein vergleichbares Projekt zuvor gab?

Das stimmt, es gibt sehr wenige andere Beispiele. Was die große Aufmerksamkeit erklärt, die ich erfahre. Ich bekomme jetzt vermehrt Anfragen von Häusern und Kollegen zu meiner Arbeit. Offensichtlich ist die Zeit reif für diese technischen Neuerungen. Ich gebe auch gerne Auskunft, wenn ich kann … Viele Fragen beziehen sich auch auf die Technik zum Beispiel der Brillen, denn die sind nicht für Theater gebaut. Weshalb es sehr viel Eigenentwicklungen beispielsweise bei der Software braucht.  Wir produzieren das gesamte Material, das wir für den „Parsifal“ benötigen, als App – eine riesige App!

Und dann müssen die einzelnen Einspieler während der Vorstellung live auf das Bühnengeschehen abgestimmt werden?

Genau – wir haben in unserer App etwa 400 Einspieler. Und der Inspizient gibt bei Blickkontakt zum Dirigenten das Zeichen, wann die Einspieler zum Einsatz kommen sollen. Das braucht eine gute Koordination.

Und in welchem Bereich des Sichtfeldes sieht der Zuschauer diese Einspieler? Alle immer am gleichen Ort, zum Beispiel hoch über der Bühne?

Das ist unterschiedlich. Manches findet über der Bühne statt, es kann aber auch sein, dass Dinge auf uns zufliegen oder man den Eindruck hat, es steht jemand direkt neben uns. Oder die Bühne erweitert sich plötzlich. Da gibt es schon die eine oder andere Überraschung.

Hört sich lustig an. Aber es wird Ihnen ja sicherlich nicht nur um Slapstick gehen …

Nein, natürlich nicht! Wir führen viele Gespräche mit den Dramaturgen und dem gesamten Team. Wir nehmen diese Arbeit und die neuen technischen Möglichkeiten sehr ernst. Das alleine sorgt schon dafür, dass die Inhalte nicht etwa flach ausfallen, sondern dem Anlass entsprechend sind – und idealerweise die Oper unterstützen und bestimmte Momente verstärken. Am Ende sehen und hören wir dieses besondere Werk anders – und verstehen vielleicht auch etwas mehr darüber. 

Sie haben die Bayreutherinnen und Bayreuther ja vor zwei Jahren schon zum Drachenkampf vor dem Königsportal eingeladen. Hat sich die Technik seither nochmals sehr verändert? 

Die Technik hat sich massiv weiterentwickelt. Aber wir setzen jetzt auch auf eine ganz andere Technik: Damals haben wir die Besucher in eine abgeschlossene Welt eingeladen – und man konnte die Dinge nur über die Brille erleben, während die Umgebung ausgeblendet wurde. Heute ist das ganz anders. Man sieht durch die Brille auf die Bühne, man sieht das Innenleben des Festspielhauses, man sieht den Sitznachbarn. Und dann bekommt man noch Einspieler aus der virtuellen Welt zugespielt. Alles gemeinsam sorgt für eine neue Seh­erfahrung.

Nun werden pro Aufführung nur 330 Besucher die Brille tragen und also die AR erleben können, rund 1.600 dagegen nicht. Macht es das für Sie als Regisseur schwieriger?

Nein, man wird auch ohne Brille eine vollwertige Inszenierung erleben. Aber mit Brille hat man eben noch ein Plus. Spannend wird es dann, wenn Menschen, die den „Parsifal“ zwei Mal gesehen haben – einmal mit, einmal ohne
Brille – vergleichen.

Wie viele Menschen haben denn an der Bayreuther AR-Umsetzung gearbeitet?

Da wäre zunächst Josh Higgason zu nennen, der mit mir am MIT ist. Er ist Teamleiter. Mit ihm arbeiten fünf bis sechs Leute intensiv daran, unsere AR-Ideen umzusetzen. Wirklich gute Leute, die sich mit Animation hervorragend auskennen, sind leider Mangelware. Der Bedarf ist schon jetzt viel größer als die Anzahl der verfügbaren Köpfe. Am MIT wollen wir die Technik weiter voranbringen, dafür aber brauchen wir weitere Leute.

Das Gute an einer stärkeren Nachfrage ist ja, dass dann erfahrungsgemäß die Angebote zunehmen und die Preise für die Hardware sinken werden …

Stimmt, der Markt ist spürbar in Bewegung. Auch Apple bringt in Kürze eine neue Brille heraus. Wir stehen auch schon in Kontakt mit dem Unternehmen.

Bayreuth hat – wie viele andere Opernhäuser auch – ein Publikum, das eher älter ist. Außerdem sagt man diesem Publikum nach, dass es eher konservativ eingestellt sei. Sind das Rahmenbedingungen, die Ihnen Sorgen machen? Anders gefragt: Glauben Sie, dass der Einsatz von AR bei einem jungen Publikum besser ankommt, weil junge Leute ohnehin schon eine gewisse Affinität für die virtuelle Welt haben?

Schwer zu sagen. Ich denke, dass man zumindest eine gewisse Offenheit gegenüber Neuem mitbringen sollte. Wer dazu bereit ist, wird auch eine neue Erfahrung machen. Aber es soll ja auch Menschen geben, die in der Oper am liebsten die Augen schließen, weil sie nur die Musik erleben, aber keine moderne Inszenierung sehen wollen. Ich verstehe meine Arbeit als Angebot an das Publikum – ein Angebot, das ich sehr gründlich und ernsthaft vorbereite und das meine Sichtweise der Oper zeigen soll. Wie das am Ende ankommt, das erfahre ich nach der Aufführung, aber damit kann und muss ich mich im Vorfeld nicht tiefer beschäftigen. Unsere Aufgabe ist, die Arbeit so gut wie möglich zu machen. Und das tun wir.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie jetzt den „Brillen-­Parsifal“ hier machen können?

Katharina Wagner hat mich eingeladen und mit mir sehr ausführlich über Augmented Reality in der Oper gesprochen. Das war ein tolles Gespräch. Katharina ist angstlos und hat große Lust auf Abenteuer. Das gefällt mir. Gleichzeitig halten neue Technologien Einzug in immer neue Lebensbereiche hier und heute; es wird alles normaler, neuer, spannender. Deshalb bekommen diese Technologien auch eine immer größere Relevanz in der Kultur, weshalb sich Oper und Theater da nicht länger raushalten sollten. 

Sehen Sie den Einsatz neuer Technik in gewisser Weise auch als Chance, junge Leute ans Theater heranzuführen?

Das wäre schön – gerade jetzt, wo man fast täglich liest, dass irgendwo ein Theater schließen muss. Ich bin Optimist. Und glaube fest daran, dass es unendlich viele Menschen gibt, die Lust auf transformative Erfahrungen haben. So here we are!

Haben Sie auch schon Angebote für weitere AR-­Projekte erhalten, nachdem bekannt geworden ist, dass Sie in Bayreuth den „Parsifal“ virtuell anreichern?

Es gibt viel Anfragen, in der Tat. Aber ich konzentriere mich jetzt voll und ganz auf Bayreuth und „Parsifal“. Um alles Weitere kümmere ich mich dann im September.

Haben Sie Respekt speziell vor diesem Werk – Wagners Weltabschiedswerk, geschrieben speziell für die Bayreuther Bühne? Schwer zu deuten, schwer zu inszenieren, weit mehr Bühnenweihfestspiel denn Oper?

Natürlich habe ich Respekt vor diesem Werk! Und vor dem Ort. Ich habe in den zurückliegenden Jahren viele „Parsifal“-Aufführungen erlebt, aber in Bayreuth klingt das Werk anders als überall sonst, hier klingt es richtig. Gerade deshalb habe ich mich auf diese Produktion sehr gründlich vorbereitet. Ich wollte die Parsifal-Legende wirklich verstehen, um auch das Werk zu verstehen. Ich hoffe und denke, dass mir das gelungen ist.   

GDM